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Geschwistern von Menschen mit Behinderung werden in der Forschung und Literatur zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet. Neben den Risiken werden auch Chancen für die Entwicklung der Geschwisterkinder diskutiert. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich näher mit der Beziehung zwischen behinderten und nichtbehinderten Geschwister, ihrer Dynamik und Entwicklung. Schwerpunkt stellt jedoch nicht das häufig thematisierte Kindes- und Jugendalter dar, sondern die Phase des Erwachsenenalters. Neben der Bedeutung und den altersspezifischen Merkmalen einer Geschwisterbeziehung im allgemeinen und zwischen ‚besonderen‘ Geschwistern, werden zentrale Aspekte der Geschwisterbeziehung im Erwachsenenalter, wenn ein Geschwister eine Behinderung hat, erarbeitet. Qualitative und quantitative Veränderung in der Beziehung werden aufgeführt und Herausforderungen für behinderte und nichtbehinderte Geschwister in der jeweiligen Lebensphase analysiert. Die theoretische Ausarbeitung dient als Grundlage für die Durchführung dreier problemzentrierter Interviews mit erwachsenen Geschwistern von Menschen mit Behinderung. Durch Fragen nach ihrer Lebensgestaltung, Beziehungsentwicklung, Verantwortung, ihren Wünsche, Sorgen und Herausforderungen mi Erwachsenenalter werden die in der Fachliteratur diskutierten Aspekte mit persönlichen Lebensgeschichten in Verbindung gebracht.
Diese Arbeit befasst sich mit der Lebenslage und den Sichtweisen von Eltern von Kindern mit Behinderung. Die Belastungs- und Bewältigungsforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten bereits vielseitig damit auseinandergesetzt. In den 80ern ging es dabei vor allem um Belastungen und negative Belastungsfolgen (vgl. LANG 2001,25). "In den 90ern hat sich dieser eingeengte Blick auf die Lebenswirklichkeit von Familien mit einem behinderten Kind in bemerkenswerter Weise verändert" (ebd.25): Die zuerst nur problemzentrierte Sichtweise ist einer ressourcenorientier-ten Betrachtung gewichen (vgl. ebd. 25). An dieser Herangehensweise orientiert soll in dieser Arbeit der Frage nachgegangen werden, wie sich Eltern mit der Diagnose einer Behinderung auseinandersetzen, welche Herausforderungen und Belastungen sie empfinden und aus welchen Ressourcen sie schöpfen. Hierzu werden vier Interviews mit Eltern durchgeführt. Die Ergebnisse der Gespräche werden dargestellt und erläutert und in Bezug auf bisherige Erkenntnisse betrachtet.
Die Arbeit ist eine Interviewstudie. Die Arbeit entfaltet die Frage entfaltet wie sich Musikalität bei Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen entwickelt. Die Autorin nähert sich dieser Frage methodisch über eine Interviewstudie. Entsprechend geht der vorangestellte Theorieteil zunächst darauf ein, was allgemein, d.h. nicht im sonderpädagogischen Kontext, sondern in der Musikwissenschaft unter „musikalisch“ und „musikalisch begabt“ verstanden wird, und welche Aspekte bei der Entwicklung musikalischer Fähigkeiten eine wichtige Rolle spielen. Sodann bezieht der Theorieteil die ausgewählte Zielgruppe ein, d.h. Menschen mit körperlicher Behinderung. Neben der auch hier erforderlichen Auseinandersetzung mit den relevanten Begrifflichkeiten nehmen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Menschen mit körperlicher Behinderung einen wichtigen Stellenwert ein. Denn diese haben einen großen Einfluss darauf, wie sich die Betroffenen in ihrer sozialen Umwelt persönlich entfalten können und welche Möglichkeiten ihnen ggf. vorenthalten bleiben bzw. verwehrt sind. Da die bisher genannten Aspekte, d.h. die (musikalische) Entwicklung, der Beruf, die Gesellschaft, die Körperbehinderung und die persönlichen Möglichkeiten zur Gestaltung der Lebenswelt einen Einfluss darauf haben können, wie die Betroffenen sich selbst sehen, d.h. auf welche Weise sie sich in ihrer sozialen Umwelt selbst „definieren“, bedarf letztlich auch der Begriff „Selbstkonzept“ einer näheren theoretischen Betrachtung. Im Anschluss wird die durchgeführte Interviewstudie vorgestellt und diskutiert. Diejenigen Aspekte werden besonders herausgestellt, die für den musikalischen Werdegang von vier befragten Musikern mit körperlicher Behinderung wichtig waren. Die Planung, d.h. die Fragestellungen, Zielsetzungen und methodischen Vorüberlegungen zu den durchgeführten leitfadengestützten Interviews, sowie die Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten werden im empirischen Teil dokumentiert.
Klettern an der Förderschule - Auswirkungen auf das Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern
(2012)
Die theoretischen Auseinandersetzung mit der titelgebenden Fragestellung wird durch eine empirische Untersuchungen ergänzt. Im Zeitraum November/Dezember 2011 führte die Autorin ein Bildungsangebot zum Klettern an einer Förderschule durch. Dabei wurden u.a. auch die beteiligten Schüler befragt. In Kapitel fünf folgt die Darstellung dieser empirischen Untersuchung. Zunächst werden Design, Fragestellung und Rahmenbedingungen der Untersuchung beschrieben. Nach der Darstellung der Projekt-Durchführung und der Übersicht und Begründung der angewandten Untersuchungsmethoden erfolgt die ab-schließende Darstellung und Interpretation der Ergebnisse. Schließlich werden in Kapitel sechs als Fazit alle Ergebnisse zusammengefasst.
Der Unterricht in heterogenen Lerngruppen wird nicht nur im Zusammenhang mit aktuellen Leitideen wie Integration und Inklusion diskutiert. Auch innerhalb der Sonderpädagogik wird das Für und Wider einer solchen Lerngruppenbildung immer wieder erörtert. Die vorliegende Arbeit greift diese Thematik auf, will dabei jedoch nicht die grundlegende Diskussion um Vor- und Nachteile von heterogenen und homogenen Lerngruppen erneut aufrollen. Vielmehr will sie – mit einem besonderen Fokus auf Schülerinnen und Schüler mit Komplexen Behinderungen (vgl. FORNEFELD, 2008) – angesichts aktueller schulpolitischer Entwicklungen die Chancen aufzeigen, die für diese Kinder und Jugendlichen, die lange Zeit als bildungsunfähige Pflegefälle galten, in einer heterogenen Lerngruppe erwachsen, ohne dabei die spezifischen Herausforderungen zu verschweigen, die sich aus einer solchen Beschulungsform ergeben können. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit liegt darin, darzustellen, welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit Kinder und Jugendliche mit Komplexen Behinderungen an den Lernprozessen in einer heterogenen Gruppe teilhaben können und sich der Unterricht für alle Beteiligten als sinnvolles und zufriedenstellendes Unterfangen erweist. Zu diesem Zweck wurden – neben einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der aktuellen Fachliteratur – exemplarisch eine Sonderschule und eine (inklusive) Regelschule untersucht. Zur Datengewinnung wurden dabei zwei bedeutende Methoden der qualitativen Sozialforschung genutzt: das problemzentrierte Interview und die teilnehmende Beobachtung. Dabei konnten unmittelbar aus der Schulpraxis weitere bedeutsame Informationen hinsichtlich der Chancen und Herausforderungen des Unterrichts in heterogenen Lerngruppen mit Schülern mit Komplexen Behinderungen, sowie hinsichtlich der notwendigen Rahmenbedingungen gewonnen werden und im Hinblick auf die verschiedenen Schularten miteinander diskutiert und verglichen werden. Im Anhang der Arbeit können ein exemplarischer Interviewleitfaden und die transkribierten Interviews, ebenso wie ein exemplarischer Beobachtungsleitfaden und die Beobachtungsprotokolle eingesehen werden.
Homosexualität und (körperliche) Behinderung, zwei Tabuthemen in unserer Gesellschaft und in Kombination beinahe undenkbar. Der Umgang mit Sexualität im Behindertenbereich beginnt sich langsam zu öffnen, immer mehr Literatur erscheint und auch die Wichtigkeit, dieses Thema an Schulen aufzugreifen, wird immer mehr gesehen. Ein Prozess, der mit Freude zu beobachten ist. Doch wird hier bewusst der Begriff „Prozess“ gebraucht, da Menschen mit einer Behinderung noch nicht das gleiche grundlegende Recht auf Sexualität anerkannt wird, wie Menschen ohne Behinderung. Wird von Sexualität gesprochen, setzen dies die meisten Menschen mit Heterosexualität gleich und vergessen, wie vielfältig sich Sexualität gestalten kann. Die Homosexualität bleibt so meist außen vor, das heißt, sie wird schlichtweg vergessen oder nicht als gleichwertige Form der Liebe anerkannt. In der wenigen deutschsprachigen Literatur fiel mir immer wieder ein Punkt auf: Die fehlende Unterstützung in der Phase des Coming-outs und die damit verbundenen schlechten Erfahrungen in der Schulzeit. Das stellte mich als angehende Lehrerin an einer Schule für Körperbehinderte (SfK) vor die Frage, wie die Situation von Schülern mit homosexueller Orientierung in unseren Schulen zu bewerten ist. Um zu prüfen, ob Homosexualität ein Thema an der SfK darstellt, interviewte ich Lehrerinnen und Lehrer, da diese letztendlich entscheiden, wie der Unterricht gestaltet wird. Menschen mit homosexueller Orientierung haben es in unserer Gesellschaft häufig nicht leicht. Oft passen sie nicht in das Bild vom „normalen Bürger“. Schule ist für mich eine Institution, die einen hohen Stellenwert hat, wenn es um die Meinungsbildung von Kindern und Jugendlichen geht. Gerade in der Schule sollten Themen, die in der Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, thematisiert und gemeinsam besprochen werden. Die folgende Arbeit soll die Komplexität und Wichtigkeit von Sexualität aufzeigen und dies in all ihren Facetten. Sie soll uns darauf aufmerksam machen, wie unsere Gesellschaft auf Menschen reagiert, die nicht der „Norm“ entsprechen. Wie auch immer diese Norm definiert wird. Letztendlich sollte sich jeder fragen, wie gehe ich persönlich mit sexueller Vielfalt um und inwieweit spielt sie in meiner beruflichen Zukunft eine Rolle? Kann ich als Lehrer dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft ein Selbstverständnis fürs „Anderssein“ entwickelt?
Pränataldiagnostik und die Auswirkungen selektiver Abtreibungen auf unser Bild von Behinderung
(2010)
Pränatale Diagnostik ist eine junge Disziplin, die sich erst im vergangenen Jahrhundert entwickelt hat und noch heute in der Entwicklung steckt. Immer wieder stoßen Forscher auf neue Erkenntnisse und verändern das Angebot an pränatal-diagnostischen Methoden. Viele Menschen sind der Auffassung, dass vorgeburtliche Diagnostik in der Lage sei, Behinderung zu verhindern. Tatsache ist jedoch, dass diese Untersuchungsmethoden lediglich zur Identifikation behinderter Föten führen, deren Geburt allerdings erst durch selektive Abtreibungen verhindert werden kann. Doch gerade der Glaube, Pränataldiagnostik könne Behinderung vermeiden, hat enorme Auswirkungen auf das Leben behinderter Menschen, die trotz oder gerade wegen des medizinischen und technischen Fortschrittes heute geboren werden. Anhand dieser wissenschaftlichen Arbeit soll aufgezeigt werden, welchen Einfluss vorgeburtliche Diagnostik und die Selbstverständlichkeit, mit der heute selektive Abtreibungen vorgenommen werden, auf unser Menschenbild und folglich auch auf unsere Sicht auf Behinderung haben. Zuerst wird auf die verfügbaren pränataldiagnostischen Verfahren und die wichtigsten diagnostizierbaren Behinderungen und Erkrankungen eingegangen. Anschließend werden die rechtlichen und medizinischen Grundlagen für einen (selektiven) Schwangerschaftsabbruch dargestellt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Folgen der Pränataldiagnostik und damit auf den selektiven Abtreibungen und deren Einfluss auf unser Bild von Behinderung. Dieser Teil umfasst viele wichtige gesellschaftliche, ethische, moralische aber auch individuelle Aspekte, die in ihrer Gesamtheit wechselseitigen Einfluss auf vorgeburtliche Diagnostik haben. Ziel ist, die wichtigsten Aspekte in dieser Diskussion darzustellen und deren Auswirkungen auf das gesellschaftliche Bild von Behinderung zu erläutern.
Die Bedeutung der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung für Mädchen und Frauen mit Behinderung
(2010)
Selbstbehauptung und Selbstverteidigung gewinnen nicht aus sich selbst heraus an Bedeutung, sondern werden vor allem im Kontext äußerer bedrohlicher Faktoren, vor denen es sich zu schützen gilt, wichtig. In diesem Sinne müssen die Selbstbehauptung und Selbstverteidigung als Maßnahmen der Prävention gesehen werden und gewinnen folglich ihre Bedeutung erst im Angesicht der Bedrohung, vor der es gilt, sich, andere und vor allem besonders Betroffene präventiv zu schützen. Daher werde ich der Argumentation folgen, die vorerst frägt, in Anbetracht welcher Gefahr präventive Maßnahmen, im Sinne der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung, ihre Berechtigung erfahren. Der Nachweis der realen Existenz solcher Gefahren, durch welche das Individuum Schaden annehmen kann, rechtfertigt demnach die Begründung für Maßnahmen, die diesen Bedrohungen präventiv entgegentreten. Neben dem Argumentationsstrang des Gewinns an Bedeutung als Gegengewicht zur drohenden Gefahr, findet sich eine weitere Logik, die die Bedeutung der Selbstverteidigung und Selbstbehauptung hervorheben kann. So stellt sich die Frage, ob sich die Selbstbehauptung und Selbstverteidigung in allgemeine theoretische Konzepte einbetten lässt bzw. ob einzelne Grundgedanken solcher Ideen, die auf Grundlage ihres theoretischen Konzepts bereits an allgemeiner Gültigkeit erfahren haben, mit denen der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung in Übereinstimmung gebracht werden können. Damit lässt sich über die Auseinandersetzung mit derart gestalteten theoretischen Konzepten die Bedeutung der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung herauskristallisieren. Jedoch fehlen diesen beiden theoretischen Argumentationslinien die Einschätzung betroffener Mädchen und Frauen. Diesem Wissen und den praktischen Erkenntnissen erfahrener Frauen und Mädchen widmet sich der 3. Argumentationsteil dieser Arbeit.
Im Oktober diesen Jahres jährt sich zum 70. mal die Beschlagnahmung Grafenecks durch die Nationalsozialisten im Dritten Reich. Dies veränderte den Ort Grafeneck 1939 maßgeblich und markierte den Auftakt zum Beginn der Euthanasie während des deutschen Nationalsozialismus, in deren Zuge unter unvorstellbaren Gräueltaten allein in Grafeneck über 10 600 Menschen den Tod fanden (vgl. STÖCKLE 2005, S.137). Es ist in unserer Gesellschaft üblich, dass zu bestimmten Anlässen gemeinsam an vergangene Ereignisse erinnert wird. An glorreiche Momente und mittlerweile auch an mit Schrecken besetzte Ereignisse. Und so wird auch diesen Oktober, durch den Anlass der sich jährenden Beschlagnahmung, an die Euthanasie in Grafeneck erinnert. Über drei Tage hinweg zeichnen Aktivisten und Ortsinitiativen die ,Spur der Erinnerung’ in Form einer violetten, auf den Boden gemalten Farbspur vom Ort der Tat, von Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, zum Ort der Schreibtischtäter, dem Innenministerium nach Stuttgart. Mit dieser Spur soll auf die Opfer der Euthanasie und auf die Täter aufmerksam gemacht werden. Geschichte soll vergegenwärtigt und verbreitet werden und dem Vergessen, dem Entfallen der Euthanasie in Grafeneck aus dem allgemeinen Bewusstsein entgegengewirkt werden. ,Die Spur der Erinnerung’ ist ein typisches Beispiel für die Manifestation dessen, was man kollektives Gedächtnis nennt. Durch verschiedene Medien, wie zum Beispiel eine (Gedenk) Aktion wie die ,Spur der Erinnerung’, nimmt eine Gruppe gemeinsam Bezug auf Vergangenes, positioniert sich moralisch und politisch und versucht den gemeinsamen, als wichtig erachteten Gedächtnisinhalt weiterzugeben. Fragt man nach dem kollektiven Gedächtnis, so muss man immer auch nach den Mitgliedern fragen, welche das Kollektiv bilden, denn es sind die Individuen welche die Erinnerung tragen. Die Gemeinsamkeit ihrer individuellen Erinnerungen ergibt eine kollektive Erinnerung (vgl. FRANK/RIPPL 2007, S.16). Umgekehrt prägt eine bestehende Gruppenmentalität rückwirkend das Erinnern der Einzelnen. Dieser Arbeit liegt, in Anlehnung an Uta George, die Hypothese zu Grunde, dass Menschen mit Behinderung als Gruppe, Träger eines kollektiven Gedächtnisses zur Euthanasie sein können und das sich dieses Gedächtnis in Teilen von dem der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden kann. Im Sinn der Gleichberechtigung und des Empowerments scheint es unumgänglich, ein solches kollektives Gedächtnis zu beschreiben um durch die Umsetzung dieser Erkenntnisse in museums- und gedenkstättenpädagogische Konzeptionen und Methoden, der Gruppe der Menschen mit Behinderung einen adäquaten Zugang zu einem sie ganz speziell betreffenden Themenbereich der deutschen Geschichte zu ermöglichen. Im gleichen Atemzug muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass der Umgang und die Heranführung der Theorie des kollektiven Gedächtnisses unter sonderpädagogischen Gesichtspunkten eine Gratwanderung darstellt. Die Manifestierung von Menschen mit Behinderung als eine eigene Gruppe, die sich von anderen Gruppen klar abgrenzen lässt, durch die unreflektierte Anwendung der Theorie des kollektiven Gedächtnisses, fördert exklusive Tendenzen und ist Normalisierungs- und Inklusionsbestrebungen abträglich. Eine besonnene und kritische Betrachtung und Anwendung des Theorems der kollektiven Erinnerungen ist deswegen essentiell.
Die Geburt eines Kindes ist ein einschneidendes Lebensereignis für die werdenden Eltern, auf das sie sich monatelang vorbereiten und das ihre bisherige Partnerbeziehung vollkommen verändern wird. Das Elternsein umfasst in der Vorbereitungsphase jedoch oft nur die glückliche Vorstellung aus der Werbung von strahlenden Eltern und einem lachenden Neugeborenen. Bei rationaler Betrachtung der neuen Aufgabenstellung ergeben sich aus dem Familienleben zunächst Aufgaben verbunden mit persönlichen Einschränkungen, auf die die Eltern nicht vorbereitet sind. Bereits mit gesunden Kindern, und andere Vorstellungen existieren hierzu nicht, ist und bleibt das Zusammenleben in der Familie eine immerwährende Herausforderung, da in ihr auf engstem Raum unterschiedliche Charaktere mit individuellen Vorstellungen und Wünschen aufeinandertreffen. Dieser ständige Auseinandersetzungsprozess erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Kommunikationsfähigkeit und Kompromissfähigkeit von Seiten der Eltern. Wie gestaltet sich demnach die Situation für Eltern, deren Idealvorstellungen von einer Familie mit einem gesunden Kind durch die Konfrontation einer auftretenden Behinderung ihres Kindes mit einem Schlag zunichte gemacht werden? In der Regel stellt dies für die Eltern ein unerwartetes kritisches Lebensereignis dar, das als akute emotionale Krise erlebt wird. Im Verlust des erwünschten gesunden Kindes sehen sie sich durch die Behinderung ihres Kindes mit einer „anderen Welt“ konfrontiert, die ihren bisherigen Lebensvorstellungen widerspricht und ihnen anfänglich jede Handlungskompetenz nimmt. Zusätzlich werden sie mit weiteren alltäglichen Aufgaben und Anforderungen im Zusammenhang mit der Behinderung ihres Kindes konfrontiert, die ein neues Verständnis in ihre Rollen als Eltern erfordert. In der für die Fallanalyse ausgewählten Familie kommen diese Aspekte durch das kritische Lebensereignis der verfrühten Geburt des ersten Kindes teilweise zum Tragen. Die Zeit der Ungewissheit über die weitere Entwicklung ihrer Tochter, geprägt durch die Hoffnung, eine drohende Behinderung noch abzuwenden, führt zu einer wesentlichen Verstärkung der emotionalen Belastung der Eltern bei der späteren Diagnosestellung, die als erneutes kritisches Lebensereignis erlebt wird. Teilweise noch verwurzelt in einem traditionellen Rollenverständnis kommt es zu einer Anhäufung zusätzlicher Aufgaben für die Mutter. Mit der Fokussierung auf ihre Tochter versucht sie für sich das verlorene Gleichgewicht wiederherzustellen, während der Vater in den außerfamiliären Bereich flüchtet. In der Suche nach einem Weg der Auseinandersetzung mit der Situation, zeigt sich ein Konflikt zwischen Annäherung und Distanz in der Rollen- und Aufgabenverteilung sowie in der gemeinsamen Beziehung der Eltern. Der zwei Jahre jünger Bruder trägt die Belastungen der Eltern in der ersten Zeit mit, vor allem auch als Folge aus den Beziehungen zu den Eltern. Verstärkt wird diese Situation durch die Geburt seines Bruders der fünf Jahre später als Frühchen zur Welt kommt. In der familiäre Situation und der Beziehung zur behinderten Schwester ergeben sich für die Geschwister daraus individuell unterschiedliche Konflikte, die in die eigene Entwicklung im Rahmen der familiären Veränderungen integriert werden müssen. Die Darstellung des Falls soll Einblicke in persönliche Erfahrungen mit Behinderung innerhalb einer Familie geben, einschließlich der Veränderungen im familiären Entwicklungsprozess. Ziel ist es einzelne Auseinandersetzungsprozesse mit der Behinderung und der familiären Lebenssituation sowie deren Auswirkungen auf die Familie herauszustellen. Im Fokus stehen nicht nur die Eltern sondern auch die nicht behinderten Geschwister, in ihren Rollen und Beziehungen in und außerhalb der Familie. Im Folgenden werden das methodische Vorgehen zur Fallanalyse erläutert und die daraus entstehenden zentralen Aspekte der Arbeit dargestellt. Bevor die thematischen Aspekte anhand der Erzählungen der Familie herausgearbeitet werden, werden wichtige Ereignisse der Lebensgeschichte von Lea kurz vorgestellt, um die Erfahrungen der Familie in einen zeitlichen Gesamtzusammenhang zu bringen.